Dorfgemeinschaft Spreda - Deindrup

Weihnachtsgeschichte

Eine wahre Weihnachtsgeschichte

von Hartmut Kurzbach aus Deindrup. Seine Geschichte wurde in der Oldenburgischen Volkszeitung in einem Wettbewerb mit Platz 1 gewürdigt.


Es ist Heiligabend im Jahre 1961

Ich, ein achtjähriger Junge, bin schon den ganzen Tag aufgeregt und kann es kaum erwarten bis die Bescherung ist. Wann klingelt endlich das kleine Glöckchen? Die Spannung ist kaum noch auszuhalten. Und vor der Bescherung gibt es auch noch, wie immer, Kartoffelsalat mit Würstchen. Wer kann denn jetzt was essen? Dreimal im Salat gerührt, zweimal von der Wurst abgebissen, bis meine Eltern ein Einsehen haben und ich endlich den Teller wegstellen kann. Gleich ist es so weit. Endlich! Und dann hör ich es, wie jedes Jahr, dieses kleine Glöckchen. Mir ist heißt. Und dann öffnet sich die Tür zum Wohnzimmer, die seit gestern verschlossen war. Als erstes sehe ich den Weihnachtsbaum in vollem Glanz mit echten Kerzen, roten Kugeln und silbernem Lametta. Wie es Tradition ist, muss der Jüngste, also ich, ein Gedicht aufsagen, und ich sehe schon meine drei älteren Geschwister grinsen. Den Umständen entsprechend hab ich’s hingekriegt. Meine Augen wandern schon durch den Raum. Aber erst noch ein Weihnachtslied und dann geht’s los. Meine Geschwister fangen schon an, die ersten Geschenke auszupacken. Mein Vater zeigt in eine Ecke unseres Wohnzimmers. Da ist etwas großes eckiges und darauf liegt ein weißes Bettlaken. Ich habe keine Ahnung. Aber wenn es das ist, was ich glaube, dann ist dies mein bisher schönstes Weihnachten. Alle stehen jetzt und schauen auf dieses weiße Lacken. Und dann sagt mein Vater: „Willst du gar nicht nachschauen, was unter dem Laken ist?“ Natürlich will ich. Und dann sehe ich es, was ich mir in meinen Träumen immer gewünscht habe. Eine Eisenbahn. Wirklich eine Eisenbahn. Mit einem riesigen Bahnhof, mit Häusern die beleuchtet sind und natürlich Waggons und einer Lok. Einer richtigen alten Dampflok mit Kohlentender. Mein Vater setzt die Lok in Bewegung und ich sehe, wie aus dem Schornstein kleine Dampfwölkchen aufsteigen. Ich vergessen alles um mich herum. Ich glaube, ich habe nicht mal richtig Danke gesagt. Diesen Heilig Abend werde ich nie vergessen.

Heiligabend 1993:

Zweiunddreißig Jahre nach diesem tollen Heiligabend 1961 schließt sich der Kreis. Doch diesmal ist alles anders. Diesmal baut nicht der Vater für seinen Sohn, sondern der Sohn baut für seinen Vater eine Eisenbahn auf. In diesem Sommer, nach einer schweren Operation hatte mein Vater gesagt: „Wenn ich aus dem Krankenhaus raus bin und wieder gesund, dann baue ich die Eisenbahn wieder auf“. Es kam alles anders. Aber es ging mir nicht mehr aus dem Kopf, das mit der Eisenbahn. Und so machte ich mich ein paar Tage vor Weihnachten daran, nach wirklich langer Zeit, die alte Eisenbahn aufzubauen. Ähnlich wie vor 32 Jahren und mit der gleichen Dampflok wie damals, nur das mit dem Rauch wollte nicht mehr so richtig klappen. Und die Platte musste genau in meinen Kombi passen, denn es geht wie jedes Jahr Heiligabend zu den Eltern. Ich habe mir wirklich viel Mühe gegeben mit der Eisenbahn. Häuser mit Licht, ein Bahnhof, grüne Wiesen, Bäume und Berge. Alles was dazugehört. Fast genau wie damals. Während des Aufbaus hatte ich hin und wieder schon mal Tränen in den Augen, denn Weihnachten war nicht mehr weit. 24. Dezember 1993. Es ist schon dunkel, das Auto ist gepackt und es geht von Langförden nach Oldenburg. Es wird eine stille Fahrt. Meine Frau und mein Sohn wissen, wie schwer mir dieses Weihnachten fällt. Je näher wir dem Ziel kommen, umso langsamer fahre ich. Manchmal kann ich die Tränen nicht mehr halten, denn ich weiß, es wird das letzte Weihnachten sein, das mein Vater mit uns verbringen wird. Die Familie ist komplett versammelt. Mit Enkelkindern. Die gab es 1961 noch nicht. Mein Vater sitzt in seinem Sessel, von seiner schweren Krankheit gezeichnet. Der Weihnachtsbaum sieht aus wie immer, rote Kugeln, silbernes Lametta und echte Kerzen. Das erste Mal, dass mein Vater den Baum nicht selbst schmücken konnte. Dieses Mal sagt keiner ein Gedicht

auf. Ist wohl ein bisschen aus der Mode gekommen. Schade. Aber ein Weihnachtslied singen alle zusammen. Die Stimmung ist schwer zu beschreiben. Immer, wenn man jemanden ansieht, bekommt derjenige einen ernsten Gesichtsausdruck. Nur mein Vater versucht so zu sein wie immer, aber man merkt auch ihm an, wie schwer es ihm fällt. Nun, jetzt ist Bescherung und diesmal muss mein Vater hinausgehen und auf das Glöckchen warten. Die Eisenbahn wird aufgebaut, alle helfen mit und stehen nun voller Erwartung und warten auf den Vater. Halt, erst das Glöckchen. Und dann stehen alle versammelt vor dieser Eisenbahn, mein Vater strahlt und Tränen kullern an seinen Wangen hinunter. Alle freuen sich mit und alle haben glasige Augen. Es ist ein trauriges Weihnachten und doch ein schönes Weihnachten. Dann geht die große Bescherung los. Alle sind mit sich beschäftigt. Nur mein Vater ist verschwunden. Nach ein paar Minuten steht er wieder im Wohnzimmer und hat einen kleinen, länglichen Karton in der Hand. Alle schauten sich fragend an. Mein Vater gibt mir den kleinen Karton, ich öffne den Deckel und heraus kommt original die gleiche tolle Dampflok wie ich sie vor 32 Jahren zu Weihnachten bekam. Keiner wusste, was das bedeuten sollte. Wo kommt diese Lok her? Und dann erzählte unser Vater uns eine wahre Weihnachtsgeschichte. Wie es früher häufig üblich war, bestellte man viele Dinge und auch Weihnachtsgeschenke bei einem Versandhaus. Neckermann macht’s möglich. Aber dieses Mal hatte Neckermann zu viel versprochen oder die Post war zu langsam, jedenfalls kamen alle Geschenke pünktlich, nur die Lokomotive nicht. Es war Heiligabend 1961 zwölf Uhr. Der Paketwagen war durch. Keine Lok. Ohne Lokomotive keine Eisenbahn. Der Familienrat, bestehend aus Mutter und Vater, tagte kurz und entschied: sofort mit dem nächsten Bus in die Stadt, es muss noch eine Lok her. Und mein Vater fand tatsächlich genau die gleiche Lokomotive, die man bestellt hatte. Weihnachten war gerettet. Wieder zu Hause angekommen staunte mein Vater nicht schlecht. Denn was stand frisch ausgepackt auf dem Küchentisch? Die Lokomotive. Es waren wohl mehrere Paketwagen an diesem Heiligabend unterwegs. Und man beschloss, die zu spät gekommene Lok, wieder zurückzuschicken. Aber natürlich erst nach Weihnachten. Sie wurde dann gut versteckt und zwar im Schlafzimmerschrank hinter der Bettwäsche. Aber irgendwie geriet die Lok dann in Vergessenheit und sie wurde nie zurückgeschickt. Und nach 32 Jahren fuhr an diesem heiligen Abend 1993 eine „alte“ und doch neue Lokomotive das erste Mal über die Geleise. Das Einzige, was nicht klappte, war der Dampf. Aber das tat an diesem Abend der Stimmung keinen Abbruch. Wir knackten Nüsse, aßen Marzipan, unterhielten uns und sangen noch ein paar Weihnachtslieder. Es war schön. Dies war der letzte Heilige Abend mit unserem Vater. Doch dieser heilige Abend war einzigartig und trotz aller Traurigkeit der schönste, den ich je erlebt habe.

 

 

© Reinhold Bothe | Otto Staggenborg

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